Der Begriff "Industrie 4.0" ist nicht neu. Trotz seiner Popularität wurde Industrie 4.0 in der Stahlindustrie nicht sofort gut aufgenommen. Man hatte den Eindruck, dass die Stahlindustrie schon lange hoch automatisiert ist und Industrie 4.0 daher nur alter Wein in neuen Schläuchen ist. Aber ist das wirklich so oder sollten sich die Stahlproduzenten doch mehr Gedanken um Industrie 4.0 machen?
Da der Begriff "Industrie 4.0" selbst nicht genau definiert werden kann, gibt es auch auf diese Frage keine klare und schon gar keine einfache Antwort. Es ist notwendig, verschiedene Perspektiven zu betrachten, um diesem Phantom auf die Spur zu kommen.
Was ist Industrie 4.0?
Es ist offensichtlich einfacher zu beschreiben, was Industrie 4.0 nicht ist, als eine treffende Definition zu formulieren. Industrie 4.0 ist keine Technologie. Es ist auch kein Produkt oder eine Dienstleistung.
Es gibt auch nicht "die" Industrie 4.0. Vielmehr ist es in der Prozessindustrie und erst recht in der Stahlindustrie schwierig, viele der Paradigmen und Innovationen aus angesehenen Forschungseinrichtungen als solche zu erkennen oder zu übernehmen. Umgekehrt ist auch eine latente Berührungsangst zwischen dem einschlägigen akademischen Bereich und der Stahlindustrie aufgrund ihrer prozessspezifischen Besonderheiten zu beobachten.
So verkommen populäre Konzepte schnell zu Utopien, wie z. B. ein mit einem intelligenten Chip ausgestattetes Werkstück, das sich selbstständig von einem System zum nächsten bewegt. Zumindest so lange, bis diese Chips zum Beispiel einen Warmwalzprozess überstehen.
Oder flexible Produktionssysteme, die ihre Funktion an die Produktionserfordernisse anpassen können - das mag in den Bereichen Schweißen, Schneiden usw. noch funktionieren. In der Stahlproduktion erfordert dies allerdings viel Phantasie.
Und doch bilden all diese Beispiele die Grundlage für das Konzept der Smart Factory und bestimmen damit den Inhalt verfügbarer Literatur und Vorträge. Aus diesem Blickwinkel ist die Skepsis der Stahlproduzenten gegenüber Industrie 4.0 verständlich.
Die letzten drei Jahre standen daher im Zeichen der Selbsterkundung und Entwicklung. Lange Zeit waren Kenntnisse und Konzepte aus dem Bereich der diskreten Fertigung gefragt. Viele Konferenzen und Symposien wurden abgehalten - in den seltensten Fällen waren deren Beiträge für die Stahlproduzenten relevant. Innovative Marktteilnehmer wurden daher selbst aktiv. Einige Hersteller führten die Position des CDO (Chief Digital Officer) ein, um das Thema zu entwickeln.
Andere Unternehmen platzierten die Digitalisierung prominent in ihrer Unternehmensstrategie. Auch Zulieferer versuchten, durch Firmenzukäufe oder strategische Allianzen eigene Wege zu gehen, um das Thema Industrie 4.0 in den Griff zu bekommen.
Unser Kunde ArcelorMittal Burns Harbor beispielsweise setzt auf Industrie 4.0, indem er ein neues Manufacturing Execution System (MES) einführt, um die Effizienz seiner Prozesse zu steigern und den Kundenservice zu verbessern. Die von PSImetals entwickelte neue MES-Lösung ersetzt veraltete Software und wird die Produktionsmanagementprozesse für die leichten Flachwalzwerke von Burns Harbor effizienter und flexibler machen.
Partnerschaft zwischen ArcelorMittal und PSI Metals
Wie Sie sehen, ist sich die Industrie ihrer Stärken bewusst und hat erkannt, dass sie selbst aktiv werden muss, um die Chancen von Industrie 4.0 zu nutzen.
Warum Industrie 4.0?
Wenn es um Industrie 4.0 geht, werden heute oft Beispiele aus anderen Branchen wie Uber oder AirBnb genannt. Das Paradigma lautet: "The winner takes it all!" Aber auch hier gilt es zu klären, was die Stahlindustrie von diesen Beispielen lernen kann.
All diese neuen Unternehmen, die mit vergleichsweise wenigen Mitarbeitern enorme Umsätze generieren, haben es geschafft, bestehende Wertschöpfungsketten aufzubrechen und lukrative Teile einfach zu übernehmen. Traditionelle Zulieferer werden zu reinen Produzenten degradiert oder verschwinden ganz. Das Dienstleistungsgeschäft und der direkte Kundenkontakt werden von den Newcomern übernommen. Solche Aussagen sind erschreckend und zwingen uns zumindest dazu, uns mit dem Thema auseinanderzusetzen.
Wird die Stahlindustrie zu einer Start-up-Szene?
Wie bereits erwähnt, ist Industrie 4.0 kein Produkt. Diese einfach klingende Aussage hat jedoch immense Konsequenzen.
Ein Produkt kann analysiert, verglichen, erklärt und schließlich gekauft werden. Ein Produkt und dessen Erwerb erfordern zwar Aktivität, erlauben aber auch ein hohes Maß an Passivität. Man kann abwarten und sehen, welche Erfahrungen andere damit gemacht haben, man kann es sich vom Anbieter vorführen lassen und sich schließlich auch beraten lassen, wie man es erwerben kann. Da es sich bei Industrie 4.0 nicht um ein Produkt handelt, fallen all diese "Annehmlichkeiten" weg.
STRG+C und STRG+V ist keine Option. Und hier trennt sich die Spreu vom Weizen. Während selbst die Vorreiter in der Stahlindustrie wissen, dass Industrie 4.0 nicht vom Himmel fällt oder bald im Regal steht, warten andere noch auf die Anleitungen, Industrie 4.0 morgen wie jedes andere Produkt im eigenen Werk einzuführen.
Industrie 4.0 bedeutet Veränderung. Benötigt wird eine "digitale Belegschaft", die nicht nur mit neuen Technologien umgehen kann, sondern auch in der Lage ist, Möglichkeiten zur Verbesserung von Prozessen zu erkennen oder neue Geschäftsmöglichkeiten mit neuen Technologien zu realisieren.
Wir sprechen hier von Laboren - ein Ansatz, der bei PSI Metals verfolgt wird -, in denen Neues ausprobiert werden kann, auch mit der Erlaubnis zu scheitern. Es ist wichtig, sich vor Augen zu halten, dass eine gut eingespielte Organisation, die am Markt erfolgreich ist, sich nicht von heute auf morgen neu erfinden kann, um den Markt neu zu definieren.
Nimmt man all diese Aussagen zusammen, wendet sie auf das eigene Unternehmen an und verknüpft sie dann mit neuen disruptiven Technologien, wird deutlich, dass in der Stahlindustrie viel getan werden kann. Die Betonung liegt jedoch auf "kann". Die Produzenten sind gefordert, sich aktiv mit der Materie auseinanderzusetzen, um ihre Prozesse auf Basis der Industrie 4.0-Philosophie zu optimieren oder gar neue Geschäftsmodelle daraus abzuleiten.
The Winner Takes It All vs. Der Weg ist das Ziel
Aus heutiger Sicht ist es eine Spekulation, ob die Disruption am Ende dafür sorgen wird, dass nur einer oder wenige Weltmarktführer standhalten können.
Der Wettbewerbsdruck und die Erfahrungen aus anderen Branchen machen deutlich, dass es nicht ausreicht, auf das neue Produkt Industrie 4.0 zu warten. Stahlproduzenten müssen sich aktiv mit der Thematik auseinandersetzen, um die am Markt verfügbaren Technologien bestmöglich zu nutzen.
Neu ist, dass die neuen Technologien es ermöglichen, völlig neue Formen der Wertschöpfung zu entwickeln. Und das kann man durchaus als Revolution bezeichnen, auch wenn sie sich in eher evolutionären Zeiten abspielt.
Wer also schnell auf Unvorhergesehenes reagieren kann, hat den entscheidenden Wettbewerbsvorteil innerhalb der Wertschöpfungskette. Auch wenn dies kein Sprint ist, ist es doch ein eine Art Rennen. Und wie in jedem Rennen wird es am Ende Gewinner und Verlierer geben.